HANNE DARBOVEN BEGEGNET DEM LETTRISMUS

Mathematische Literatur trifft auf Lettristische Weltformel

 

 

Gallery Weekend Berlin
Samstag & Sonntag, 29. und 30. April 2017, 11 bis 16 Uhr

Matinée mit einer Einführung der Kunstwissenschaftlerin Miriam Schoofs
Sonntag, 30. April, 11.30 Uhr

Im Jahr 1971 wandte sich Darboven dem Schreiben zu und entwickelte, beginnend mit Homer. Odyssee (1971), ihrer ersten Textarbeit, das Verfahren des Abschreibens und Zitierens aus literarischen und philosophischen Werken, Sachbüchern, dem Großen Brockhaus sowie Artikeln aus Nachrichtenmagazinen, welches in der zentralen Schreibzeit (1975–1981, 1985) mündete: „Es muss alles ganz einfach sein, es muss ‚real writing‘ sein“, so Darbovens Überzeugung.

Darbovens Methode ist der Akt der Aneignung als Prozess und Erfahrung: „Ich habe Sachen noch einmal von Hand geschrieben, um durch die ermittelte Erfahrung mich selbst zu vermitteln“, erklärt die Künstlerin. In ihrer akribischen Arbeitsweise füllte die Künstlerin seitdem in mönchischer Disziplin Blatt um Blatt. Formal ähneln die Schreibarbeiten Übungen im Schönschreiben. Das Schreiben, besonders die Schreibschrift und die abstrakten, wortlosen Wellenbögen, das handschriftliche Auf und Ab der Linien, wurde zum persönlichen Markenzeichen von Hanne Darboven.

Kurz nachdem Darboven erstmals die zentrale Arbeit Schreibzeit ausgestellt hatte, fertigte sie ihre beiden wohl politischsten Arbeiten: Milieu ›80‹ – heute (für Walter Mehring) bzw. Für: Walter Mehring und Wende ›80‹ (1980).
Walter Mehring war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller und einer der bedeutendsten satirischen Autoren der Weimarer Republik. 1917/1918 wurde er zum Mitbegründer der Berliner Dada-Sektion. Seine Gedichte aus den frühen 1920er Jahren gehören zu den wesentlichen Werken des Expressionismus und er publizierte regelmäßig in verschiedenen literarischen Zeitschriften. Vor allem in der von Siegfried Jacobsohn herausgegebenen Weltbühne und im Tage-Buch schrieb er in Gedichten und satirischer Prosa gegen Militarismus, übersteigerten Nationalismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus an. Er gehörte neben Kurt Tucholsky zu den Gründern des politisch-literarischen Kabaretts in Berlin und verfasste in den 1920er Jahren Chansons und Texte für alle namhaften Berliner Kabarett-Theater. Mehring selbst entging nur knapp seiner Verhaftung durch die SA und emigrierte 1941 in die USA.1953 kehrte er nach Europa zurück. Der Geburtstag Hanne Darbovens am 29. April, der sich in diesem Jahr zum 76. Mal jährt, fällt schließlich auf denselben Tag wie derjenige Walter Mehrings.
In seinem wohl bekanntesten Buch Die verlorene Bibliothek (1951, 1952) analysiert Mehring die „historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die Wirkungslosigkeit der Dichter und Denker angesichts der Barbarei des „Dritten Reichs“.

Dass der Stift (ob zum Zeichnen oder Schreiben) die stärkste Waffe gegen politischen Machtmissbrauch und ideologisch-verblendete Willkür darstellt, wurde in jüngster Zeit, in welcher Schriftsteller, Journalisten und Karikaturisten ob der Ausübung ihres Berufs – auch in Europa – um ihr Leben fürchten müssen, erschreckend deutlich. Die Figur des Dichter-Schreibers hat zudem eine lange Tradition, und Hanne Darboven identifizierte sich erklärter Maßen damit: „Ich verstehe mich in erster Linie als Schreiberin, was ich ungeachtet der anderen visuellen Techniken, die ich benutze, bin. An erster Stelle bin ich Schreiberin, bildnerische Künstlerin an zweiter.“
Text: Miriam Schoofs

Miriam Schoofs, Kuratorin und Doktorandin der Kunstgeschichte (Hamburg/Berlin) promoviert derzeit über Hanne Darboven und hat u.a. eine Reihe von Beiträgen über verschiedene Aspekte im Werk der Hamburger Konzeptkünstlerin (1941–2009) publiziert.

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Herzlichen Dank an eine Privatsammlung, Berlin und die Helga Maria Klosterfelde Edition, Berlin für die freundlichen Leihgaben.